Martin Rost
Publikationen
Erschienen ist dieser Text in:
- Rost, Martin, 1998: Zur Industrialisierung wissenschaftlicher Kommunikation; in: Hartmann, Frank (Hrsg.), 1998: Informationsgesellschaft. Sozialwissenschaftliche Aspekte, Band 3, Wien: Forum Sozialforschung Schriftenreihe: 123-136
- http://www.maroki.de/pub/sociology/mr_iwk.html
1998.03, Version 1.0

Zur Industrialisierung wissenschaftlicher Kommunikation

In diesem Beitrag möchte ich zunächst einen Vorschlag unterbreiten, wie sich das Internet genuin soziologisch fassen läßt. Anschließend komme ich auf die Folgen zu sprechen, die die Nutzung des Internet insbesondere im Wissenschaftssystem schon jetzt absehbar auslöst.

Ohne auf weitere Details eingehen zu können, verstehe ich das Wissenschaftssystem, hierbei Niklas Luhmann (vgl. Luhmann 1990) sowie insbesondere der Arbeit Rudolf Stichwehs folgend (Stichweh 1994), als ein sich anhand von Publikationen reproduzierendes Kommunikationssystem.

Wie läßt sich das Internet aus soziologischer Sicht fassen?

Die Netzerktechniker definieren ein Computernetz anhand des sogenannten "OSI-7-Schichten-Modells" (vgl. Tanenbaum 1990; Comer 1991). Für ein ausreichend differenziertes Verständnis vom Netz reicht für Nicht-Netzwerktechniker die gröbere Variante eines 3-Schichten-Modells aus (vgl. Rost/ Schack 1995):


Grafik-1: Drei Schichten-Netz-Modell

Um sämtliche derzeit betriebenen Computernetze voneinander unterscheiden zu können, also etwa CompuServe von AOL von FidoNet, von Local-Area-Networks von Metropolitan-Networks von Internet usw., müssen drei weitere organisationelle Kriterien hinzugenommen werden:


Grafik-2: Organisations-Modell

Diese organisatorische Seite der Computernetze zu analysieren, ist für Soziologen selbstverständlich kein Problem. Ebensowenig bereitet es Soziologen wenig Mühe, die Kommunikationsformen in den Netzen zu untersuchen und deren gesellschaftliche Folgen abzuschätzen. Auch ich werde dies gleich im Zusammenhang mit den Folgen für das Wissenschaftssystem tun. Eine andere soziologische Perspektive, die derzeit vor allem von Marktforschungs-Instituten eingenommen wird, ist die auf die Netzanwender.

Doch bleibt bei diesen soziologischen Forschungsfeldern die folgende Frage unbeantwortet: Wie läßt sich das Internet selbst noch soziologisch fassen?

Um Technik allgemein soziologisch fassen zu können, muß eine Entscheidung zwischen den folgenden zwei Optionen getroffen werden:


Grafik-3: Zwei Theorieentscheidungen

Entweder wird a) Technik selbst als ein sozialer Tatbestand konzeptioniert (das kann zum Beispiel heißen, eine Technik wie das Internet als eine Form einer Sozialbeziehung zu begreifen). Oder aber b) die Technik selbst wird nicht weiter soziologisiert. Hiernach würde Technik einfach als eine reine Dingwelt aufgefaßt, als eine Umwelt des Sozialen .

Nur wenige Techniksoziologen sehen sich überhaupt vor diese Entscheidung gestellt. Ich votiere in techniksoziologischer Absicht eindeutig dafür, auch Technik als soziologischen Tatbestand zu fassen, bevor man sich mit der Genese, den sozialen Voraussetzungen und den sozialen Folgen einer Technik tatsächlich soziologisch beschäftigen kann. Demnach ist auch die technische Seite des Internet als ein sozialer Tatbestand zu bestimmen. Eine solche Theorieentscheidung verdankt sich der Überzeugung, daß Technik einer Gesellschaft nicht äußerlich gegenübersteht. Technik ist ein Teil einer Gesellschaft, so wie unbezweifelbar Ökonomie, Politik, Kultur oder Wissenschaft auch Bestandteile einer Gesellschaft sind (vgl. Hochgerner 1986). Eine solche Überzeugung steht zwar am Anfang einer techniksoziologischen Forschung, sie muß dann allerdings im Zuge der Theorieentwicklung auch legitimiert werden, um nicht in dem zweifelhaften Modus einer bloßen Überzeugung zu verharren. Diese Theorieentscheidung steht ferner in der Durkheimschen Tradition, nämlich Soziales primär aus Sozialem zu erklären. Es gilt somit, die Eigenlogik technischer Operationen mit deren spezifischen Sinn selbst noch als etwas genuin Soziales wahrzunehmen und diesen nicht als bloß-technizistisch und instrumentalistisch aus der Soziologie hinauszukomplimentieren.

Nach dieser Entscheidung steht eine weitere, ebenso grundsätzliche Entscheidung an. Nämlich die Entscheidung darüber, welche Theorie aus dem Bereich der allgemeinen Soziologie den Theorieaufbau einer techniksoziologischen Zuspitzung kontrollieren sollte. Ich spreche von der Dialektik auf der einen Seite, die von den dynamischen Beziehungen her auf das Bezogene hin beobachtet. Und ich spreche auf der anderen Seite von Systemtheorie, die von dynamischen Systemen ausgeht und die die Beziehungen zwischen verschiedenen Systemen als Störungen ausweist.

Diese beiden Theorietraditionen gestatten, unterschiedliche techniksoziologische Ansätze zu fahren, die ich in gebotener Kürze am konkreten Beispiel des Internet

andeuten möchte: Dialektisch orientiert ließe sich das Internet, zunächst allgemein ausgedrückt, als eine materiale Form einer Sozialbeziehung fassen. Nach Volker von Borries, der 1980 eine entsprechende Techniksoziologie vorgelegt hat (vgl. Borries 1980), ist ein Artefakt, sowie die Nutzung des Artefaktes, eine Interaktion zwischen dem Benutzer und den Herstellern des Artefaktes zu begreifen. Im Artefakt materialisiert sich ein Konflikt zwischen dem Profitprinzip, dem Humanprinzip und dem Gebrauchsprinzip aus. Das Internet wäre hiernach etwa als eine Figuration zwischen Netzbetreibern, die mit dem Netzbetrieb ihr Geld verdienen, den Designern, Planern und Ingenieren der Technik sowie den ausführenden Programmierern, Technikern und Handwerkern zu verstehen, die insgesamt das Netz und deren Anwendungen ausgeformt haben. Und zwar ihrerseits in Interaktion jeweils mit dem "verallgemeinerten Anderen" (G. H. Mead), die die Ergonomie als technisch-statistische Größe entwirft.

Im Unterschied dazu ließe sich Technik systemtheoretisch als ein Sozialsystem bestimmen. Wie die anderen Sozialsysteme (Ökonomie, Politik, Wissenschaft) auch, reproduziert das Techniksystem die Einheiten, aus denen es besteht, anhand der Einheiten, aus denen es besteht. Artefakte wie das Internet wären solche Einheiten. Werkzeuge werden mit Hilfe von Werkzeugen, Maschinen und großtechnischen Systemen technisch reproduziert. Das Internet wäre hiernach nicht als ein materialgewordener Konflikt bestimmbar, sondern das Internet entwickelte sich technisch, im Zuge der gesellschaftlichen Evolution, gemäß den Formen gesellschaftlicher Differenzierung, die der mittlerweile in der Soziologie hochgehandelte Systemtheoretiker Niklas Luhmann unterscheidet in segmentäre-, stratifikatorische- und funktionaldifferenzierte Form (vgl. Luhmann 1984, Kiss 1990). Jede dieser Formen korrespondiert mit einer typischen Technik: Werkzeuge korrespondieren mit segmentären-, Maschinen mit stratifkatorischen- und großtechnische Systeme mit funktional differenzierten Sozialsystemen.

Meiner Ansicht nach ist der Systemtheorie der Vorzug vor der Dialektik zu geben, wenn es darum geht, eine moderne Techniksoziologie zu formulieren, die auch modernen Techniken eine soziologische Fassung gibt.

Ich möchte für die Bevorzugung der Systemtheorie zwei Gründe angeben:

1) Dialektik ist genötigt, soziale Tatsachen auf das Handeln von Subjekten und auf deren Interessen zu gründen. Sie vermag nur eine relative Selbständigkeit der gesellschaftlichen Dynamik wahrzunehmen, die meiner Ansicht nach für eine Soziologie strikter ausfallen muß. Dialektik changiert zwischen Individuellem und Kollektivem, und erklärt dies als Qualität, die sich als Widersprüchlichkeit der Verhältnisse aufdrängt. Speziell techniksoziologisch lassen sich mit Dialektik zwar Werkzeuge ganz gut fassen (vgl. Borries Schaber), aber schon Maschinen, und erst Recht großtechnische Systeme lassen sich nicht mehr überzeugend dialektisch begreifen, weil man genötigt wäre, etwa Stromnetze, Straßen, Kanäle und Computernetze auf Interaktionen von anwesenden Menschen zurückzuführen. Aus der dialektischen Perspektive ist die Subjektferne der Großtechnik nicht mehr theoretisch zu fassen, so daß dieser Theoriebau-Tradition wenig mehr verbleibt, als Großtechnik zu moralisieren, statt sie zu analysieren.

2) Die Systemtheorie löst das Kernproblem der Dialektik, nämlich das der Vermittlung, die eine eigene Qualität generiert. Und zwar besser als es die Dialektik selbst vermag. Während Dialektik nur behaupten kann, daß empirisch ein Konflikt offensichtlich vermittelt wird, der logisch als ein Widerspruch gefaßt wird, bemüht sich Systemtheorie hier um ein genaueres Verständnis. Gemäß Systemtheorie schließen in operativ geschlossenen Systemen Systemereignisse intern an Systemereignissen an. Systemexterne Störungen erhalten durch die Wiedereinführung der systeminternen Differenzbildung in das System eine systemintern gefaßte Form. Ein Beispiel: Für die Ökonomie, die sich allein aus Zahlungen und Nichtzahlungen reproduziert, besteht die Welt universal nur aus Zahlungen und Nichtzahlung. Alles was passiert erhält in dieser Form diese bestimmte Fassung der Weltkomplexität.

Ohne hier jetzt auf weitere Details der Theorie (vgl. Luhmann 1984, Luhmann 1990) eingehen zu können, wäre das Internet als ein großtechnisches System zu bestimmen, das als ein Teil des autopoietisch operierenden Sozialsystems Technik zu begreifen wäre.

Was ist durch diese beiden Theorieentscheidungen für die soziologische Analyse einer Technik wie das Internet nun gewonnen? Dazu drei kurze Bemerkungen:

1) Es lassen sich mit einer Soziologisierung der Technik die Entwicklungsdynamiken, die bereits an anderen Sozialsystemen analysiert wurden, auf die Entwicklungsdynamik von Technik übertragen.

Damit stehen beispielsweise Konzepte zur Verfügung, wie die Reproduktion von Sozialsystemen geschieht, wie Systemkomplexität aufgebaut und Umweltkomplexität systemintern abgebaut wird, wie die Konditionierung von Systemanschlüssen anhand von Codes und Programmen geschieht, um den Umweltstörungen durch die anderen Sozialsysteme oder andere Umwelten eine speziell technische Fassung zu geben.

2) Diese Übertragung der Entwicklungsdynamik hat zur Folge, daß die Eigendynamik technischer Entwicklungen und der Differenzierungdruck, den Technik auf andere Sozialsysteme oder auf Personen ausübt, genauer und "moralfreier" als bisher begriffen werden kann. Und zwar in dem Sinne, daß nicht kurzschlüssig von einem Übergreifen der Technik auf andere Sozialsysteme im Sinne einer okkupierenden Technisierung, von einer systemischen Eroberung der Lebenswelt und anderen beliebten Metaphern dieser Art, ausgegangen werden muß.

Vielleicht erinnern Sie sich... das Feuilleton durfte noch bis zum Ende der 80er Jahre hinein ungestraft behaupten, die Nutzung des PCs mechanisiere die akademische Arbeit und führe bei den PC-Benutzern zum trivialen Schwarz-Weiß-Denken. Mittlerweile wissen die meisten Wissenschaftler den Komfort der Delete-Taste ihres PCs durchaus zu schätzen. Und daß ihr Denken durch die Nutzung einer Textverarbeitung verarmt und mechanisiert sei, können sie nicht feststellen, im Gegenteil: Eine Textverarbeitung erlöst von idiotischen, mechanisch zu verrichtenden Arbeiten, die der Umgang mit Papier und Bleistift oder die die Schreibmaschine noch aufnötigten. Das Feuilleton hat aus diesen positiven Erfahrungen der technischen Unterstützung wissenschaftlicher Publikationsarbeit aber nichts gelernt: Nun diabolisiert es wohlfeil die Netze, und behauptet, diese führten zur katastrophalen Informationsflut. Ich werde auf diese falsche Behauptung zum Ende meines Referats noch einmal zu sprechen kommen.

Zurück noch einmal zu konzeptionellen Überlegungen. Das Internet provoziert die Herausbildung von weiteren Netzen. Damit sind nicht nur die Netze in den Betrieben und Instituten gemeint (die sich übrigens nach meinen Beobachtungen zu einem guten Teil privater Initiative verdanken, oft gegen den Druck von Vorgesetzten eingeführt), sondern gerade auch Strom- und Telefonnetze etwa in der Dritten Welt. In den Wissenschaften führte das 1969 gegründete Internet dazu, daß die Länder spezielle Wissenschaftsnetze aufbauten. In Deutschland wurde das WIN genannte Wissenschaftsnetz 1984 gestartet. Die Vernetzung über Computernetze führt nicht nur im Bereich der Netze, sondern auch innerhalb des gesamten Techniksystems zur Ausdifferenzierung von Techniken etwa im Maschinenbau und der Werkzeugherstellung. Die technischen Fortschritte z.B. in der Robotik und Nanotechnik sind eng gekoppelt an vernetzte Datenverarbeitung. Und Werkzeuge werden schon seit langem von CNC-Maschinen hergestellt, die seit wenigen Jahren wiederum an Netze gekoppelt sein können, über die die zentrale Programmierung geschieht bzw. die direkt mit dem CAD-System aus der Kostruktionsabteilung gekoppelt sind.

Computernetze führen in der Technik-externen Umgebung zu Veränderungen. So stören sie die Operationen der anderen Sozialsysteme nachhaltig bzw. stellen den anderen Systemen ihre vorseligierte Komplexität zur Verfügung. Ökonomische, politische, kulturelle, wissenschaftliche Kommunikationen werden durch Computernetze drastisch beschleunigt. Auf die Folgen speziell für die Wissenschaft komme ich gleich zu sprechen.

3) Auch umgekehrt läßt sich begreifen, wie andere Sozialsysteme ein Techniksystem wie das Internet unter einen Differenzierungsdruck setzen. Hier gilt genauso, daß die anderen Systeme das Techniksystem aber nicht okkupieren, daß also nicht Technik und Herrschaft (vgl. Ullrich 1977) oder Technik und Wissenschaft (vgl. Habermas 1969) in eins zusammenfallen, und lediglich als Medium für Herrschaft und Ausbeutung dient. Herrschaft bleibt Herrschaft und Technik bleibt Technik, auch wenn beide einander zweifellos "modulieren".

Zum Beispiel ist vollkommen berechtigt der Ton der Juristen aufgeregt, weil bislang nicht ausgemacht ist, welches Recht bei Verstößen in öffentlichen Diskussionsforen der Netze aktiviert werden muß: Dasjenige an dem Ort, an dem das Unrecht als ein solches bezeichnet wird. Oder dasjenige Recht an demjenigen Ort, an dem der Täter das Unrecht fabrizierte. Als bekanntes Beispiel sein angeführt: In den USA ist die Ausschwütz-Leugnung bekanntlich nicht strafbar, in Deutschland schon. Wie soll man also rechtlich verfahren, um einen in den USA ansäßigen Nazi, der in Deutschland im Netz publiziert, habhaft zu werden? Ein technischer Ansatz, diesem Konflikt zu begegnen, besteht darin, Zensur-Programme auf Anwendungs-Schicht (siehe das drei Schichten umfassende Computernetz-Modell oben) wie z.B. PICS1 zu installieren, die den Zugang zu bestimmten Servern im Netz signifikant erschweren sollen. Ein kultureller Vorbehalt gegen Pornographie oder ein politischer gegen Extremismus führt demnach zur Ausformung der Netztechnik, in diesem Falle auf der Anwendungs-Schicht. Denkbar wären aber auch Lösungen zum Filtern der Netzzugänge auf der Protokoll-Schicht, indem z.B. die Anbieter von WWW-Seiten juristisch gezwungen werden, ihre Seiten schon auf technisch ziemlich tiefer Schicht zu klassifizieren, wodurch das Umgehen von Filtern erschwert wird, ohne aber den Anwendungskomfort derartig zu beeinträchtigen, so daß das System im Konsumermarkt keine Chance hätte. Neue Entwürfe zum Internet-Protokoll sehen dies auch vor (vgl. Jaeger 1996). Die Auswahl der Schicht-Ebene ist offensichtlich eine genuin politische Angelegenheit, abhängig davon, ob ein gut kontrollierbares Sicherheitsniveau des Filterns/ Zensierens im Vordergrund steht oder das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Bürgers.

Soweit in Kürze einige Vorstellungen dazu, wie sich dem Internet eine soziologisch-konzeptionelle Fassung geben ließe. Nunmehr möchte ich am Beispiel des Zusammenhangs von Kommunikationstechnik und Wissenschaftssystem zur Beantwortung der zweiten Frage kommen, nämlich: Mit welchen Folgen der Anwendung des Internet ist im Bereich der Wissenschaften zu rechnen?

Meine Kernthese, die ich in polemischer und historisierender Absicht in Marxscher Terminologie formulieren und ausführen möchte (vgl. Marx 1867), lautet: Computernetze wie das Internet sind der Beginn der Vollendung des Projekts der Industriellen Revolution. (vgl. auch die ausgearbeitete Version der nachfolgenden Thesen in: Rost 1996). Der Differenzierungsdruck, der von der Technik ausgeht, führt zur Industrialisierung derjenigen Bereiche der Gesellschaft, die bislang mit der Verarbeitung nicht-trivialer Mitteilungen befaßt waren und die von der Industrialisierung, und dem damit verbundenen Demokratisierungsschub, verschont geblieben waren. Dies trifft insbesondere auf die Hochschulen zu.

Bislang operieren Wissenschaftler unter vorindustriellen Produktionsverhältnissen. Ein Wissenschaftler versteht sich zumeist als ganzheitlich orientierter Kunsthandwerker, er operiert teamavers-, genialisch- und technikphob.

Die Vorstellung, in formal festgelegter Arbeitsteilung mit Anderen an miteinander verbundenen Maschinen an einem Gesamttext zu arbeiten, wird in der Regel als nicht tolierbare Zumutung begriffen. Der Anspruch auf Werkshoheit und auf individuelle Zurechenbarkeit des Produkts auf den einzelnen Autoren gilt, obwohl dieser in den bereits industrialisierten Bereichen der Gesellschaft längst hinfällig geworden ist, hier als unverzichtbar.

Die derzeit in der wissenschaftlichen Produktion, Konsumtion und Zirkulation verwendete Technik ist, im gesellschaftlichen Vergleich, auffällig primitiv. Zwar wird mittlerweile überwiegend der PC eingesetzt, doch ein digital vorliegender Text muß derzeit auf Papier runtergebrochen in den wissenschaftlichen Diskurs eingespeist werden. Dies hat zur Folge, daß wissenschaftliche Konsumenten oftmals viel Mühe, Zeit und Geld darauf verwenden, papierene Artikel durch Texterkennungssoftware wieder in digital verarbeitbare Form zu bringen. Dieser Medienbruch zwischen digitaler und papierener Form verringert den Wirkungsgrad der Zirkulation von Publikationen drastisch. Die Anschlußgeschwindigkeit von Argumenten in Rede und Gegenrede, von Beweis und Gegenbeweis, bemißt sich auf Grundlage von Zeitschrift-Artikeln in Einheiten zu mehreren Monaten, auf Grundlage von Büchern in Jahren.

Die technischen Vorteile des Internet gegenüber dem Papier als Diskursmedium liegen auf der Hand. Diese werden bis zum Überdruß propagiert, aber von Wissenschaftler bislang so gut wie nicht genutzt. Selbst die Mathematiker, die im WWW-Nachfolger Hyper-G (vgl. Grötschel 1994) publizieren, als auch die Physiker, die den Ginsparg-Preprint-Server (vgl. Henze 1995) nutzen, tun dies nach wie vor mit Referenz auf Papier. Denn nur über das Kommunikationsmedium Papier ist bislang an Reputation zu gelangen, dem Kapital innerhalb der Wissenschaftsorganisationen.

Daß das Internet nicht vollwertig genutzt wird, ist selbstverständlich nicht dem einzelnen Wissenschaftler in Rechnung zu stellen, sondern den stratifikatorisch-zunftartigen Sozialstrukturen der Wissenschaftsorganisationen.

Es existieren fein abgestufte Reputationsskalen, anhand derer sich Studenten, Dozenten, wissenschaftliche Autoren, Redaktionen, Verlage, Institute, Forschungsorganisationen oder auch Kultusministerien gegenseitig taxieren. Der Zugang zu den Reputation verschaffenden Diskursformen ist seinerseits über Reputation, Ehre und Prestige geregelt. Verfügt ein Neuling, etwa als frischer Hochschulabsolvent, noch über keine Reputation, ist er auf das Protegieren durch seinen akademischen Ziehvater angewiesen. Trotz Gutachterverfahren müssen Redaktionen primär darauf achten, möglichst viele möglichst reputierliche Autoren zu publizieren, weil deren Reputation auf die Zeitschrift zurückstrahlt, wodurch die Zeitschrift erst eine akademische und ökonomische Standfestigkeit erreicht.

Der Zugriff auf das Internet und dessen wissenschaftlichen Kommunikationsforen ist dagegen frei. Hier sind bislang keine Filter der Zunft-Organisationen vorgeschaltet, weshalb das Internet von etablierten Wissenschaftlern primär als Chaos wahrgenommen wird. Eine Publikation im Internet, mag sie inhaltlich auch noch so brilliant sein, wirft keine Reputation ab. Etablierte Wissenschaftler interessieren sich deshalb allenfalls für solche Netzdienste, die am bestehenden Reputationssystem nicht rühren. Dazu zählen die Netzdienste wie Recherchen in Bibliotheken, Surfen im Word-Wide-Web und persönliche EMail. In den wissenschaftlichen Diskussionsforen des Netzes zählen allein die besseren Argumente. Reputation oder andere Sekundärtugenden eines genuin wissenschaftlichen Streits sind hier belangslos. Selbstverständlich lassen sich im Netz ebenfalls stratifikatorische Organisationsformen einrichten, etwa exklusive Mailinglists, in die neue Mitglieder nur im Modus der Gnade Aufnahme finden. Diese Exklusivität muß sich jedoch mehr als bisher als funktional ausweisen und legitimieren, weil es ist immer möglich ist, ein freies Forum parallel zu einem exklusiven Forum einzurichten und die Arkanisierung unter Motivverdacht stellen.


Grafik-4: Wissenschaft und Kommunikationsmedium

Das Internet macht offenbar, daß die Bewertung von Argumenten nicht primär durch Selbstorganisation der Diskurse geschieht, wie es wissenschaftstheoretisch von Humboldt, Popper oder auch Habermas nahegelegt wurde, sondern durch die nicht-demokratisch legitimierten Mitglieder in den zunftartig strukturierten Wissenschaftsorganisationen. Die bisherige Macht der Zünfte wird durch die Netze gebrochen, deren Reputationssystem wird unterlaufen, es ist deshalb mit starken Auseinandersetzungen zu rechnen. Wenn an die Stelle der Zünftvertretungen der wissenschaftliche Diskurs selbst die Beiträge filtert, drängt sich der eingangs erwähnte Verdacht auf, durch das Internet entstehe für Wissenschaftler eine unermeßliche Informationsflut. Doch das ist falsch, die Netznutzung ist die Bedingung zu deren Bewältigung, denn eine Informationsflut haben wir ja längst. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es etwa 100 wissenschaftliche Journale. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte man 10 Tausend, am Ende des 20. Jahrhunderts schätzt man die Zahl auf etwa 1 Million (s. Wiiers 1994: 1-9). Etwa alle 16 Jahre verdoppelt sich die Anzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen (s. Cummings 1992). Unter diesen heutigen Umständen kommt die Vorstellung von gutem Informiertsein allein dadurch zustande, daß ein Autor nicht einmal auch nur grob abzuschätzen vermag, welche Publikationen er ignoriert, wenn er selbst eine anfertigt. Nicht die Informationsflut ist das Problem, denn sie ist da und ein in der gesellschaftlichen Evolution großer Vorteil, sondern die Technik, mit der sie derzeit gefiltert wird, ist primitiv und unzulänglich. Bislang steht für intelligente Selektion von Publikationen keine Technik zur Verfügung, sie muß durch menschliche Kopfsklaven und Kopfarbeiter bewerkstelligt werden. Zur Entwicklung von Computern, die die Selektion von wissenschaftlichen Diskurs-Beiträgen technisch unterstützen, wenn nicht sogar weitgehend übernehmen2, ist die durchgängige Digitalisierung des Kommunikationsmediums die ganz entscheidende Voraussetzung.

Wenn Autoren ihre digital vorliegenden Texte mit Hilfe von Markup-Languages, vergleichbar etwa der der HTML (vgl. Morris 1996) des World-Wide-Web aufbereiten, ist es auf besonders effiziente Weise möglich zusammenzuarbeiten, etwas, daß mit dem Rückgriff auf Papier sehr mühselig war3. Weil die meisten Autoren heute noch in den Maßstäben einer Papierkultur denken, scheint ihnen die technisch unterstützt Zusammenarbeit mit mehreren Autoren an einem Text geradezu unvorstellbar und so wenig wünschenswert. Eine solche Aufbereitung durch eine Markup-Language ist zugleich eine Voraussetzung dafür, daß auch Computer Texte aufbereiten und selegieren können.

Groupware-Applikationen, wie etwa Joined-Editing oder Joined-Painting-Systeme (vgl. Malm 1994), bieten zudem schon seit wenigen Jahren eine ganz neue Qualität an organisierter Zusammenarbeit, die ohne digitales Medium unmöglich ist. Groupware gestattet, daß mehrere Textbearbeiter an ihren PCs zugleich an einer Publikation gemeinsam arbeiten können. Alle Beteiligten sehen an ihren Monitoren die Cursor der anderen Beteiligten durch den Text huschen. Sich an der Intelligenz anderer zu erfreuen, oder um es weniger nett auszudrücken: die Intelligenz anderer auszubeuten, statt diese zu fürchten, verlangt allerdings wahrhaft demokratische Verhältnisse.

Insofern gilt: Erst wenn die hemmenden, unterkomplexen Zunftstrukturen im Wissenschaftssystem fortfallen, kann das Internet entsprechend den gebotenen Möglichkeiten voll als Diskursmedium einer Scientific Society genutzt werden. Hier steht ein gesellschaftlicher Wandel an, der vor der Implementation der Technik erfolgen muß. Ist ein Zugang zum Computernetz wie dem Internet aber erst einmal, und sei dies unvollständig, implementiert und wird eine solche Technik auch nur sporadisch, etwa von den niedrigen Rängen der Hochschulen, den Externen und den Außenseitern, genutzt, kann sie mitkoppelnd als Katalysator die gesellschaftliche Differenzierung nicht nur im Wissenschaftssystem dramatisch beschleunigen. Und genau das scheint mir derzeit der Fall zu sein.

Ich möchte zum guten Schluß noch kurz das Problem der Honorierung von Diskurs-Beiträgern anreißen, wenn sich diese womöglich nicht mehr an dem herkömmlichen Verständnis von individuellem Urheberschutz, von Werkshoheit oder auch nur an der Auflagenstärken bemessen läßt (vgl. Barlow 1995). Es sind verschiedene Möglichkeiten der zukünftigen Honorierung von Diskursarbeit denkbar. So wird selbstverständlich eine Diskursfabrik die Wissenschaftler bezahlen müssen, die sie als Teams auf ein Problem ansetzt. Auf der Hand liegt ferner die Möglichkeit zur Direktvermarktung von Texten nach dem Sharewareprinzip. Eine dem gegenüberstehende kollektivistische Lösung bestünde darin, daß Verwertungsgesellschaften, wie die VG Wort, die VG Bild oder die GEMA, ihre Ansprüche auf die neuen Digitalmedien ausweiteten und Abgaben differenziert auf die Archivierungsmedien, die Distributionsmedien und die Anwendungsmedien erhöben. Noch etwas weiter gedacht, wäre es plausibel, wenn erneut eine gesellschaftsweit egführte Diskussion zur allgemeinen Grundversorgung und zum Bürgergeld (vgl. Vobruba 1990) aufflammte.

Literatur

Barlow, John Perry, 1995: Wein ohne Flaschen - Globale Computernetze, Ideen-Ökonomie und Urheberrecht. In: Bollmann, Stefan (Hrsg.), 1996:

Bollmann, Stefan (Hrsg.), 1996: Kursbuch Neue Medien - Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 2. Auflage: Bollmann Verlag

von Borries, Volker, 1980: Technik als Sozialbeziehung: Zur Theorie industrieller Produktion, 1. Aufl., München: Kösel

Comer, D., 1991: Internetworking with TCP/IP Vol.1, 2, 3, Englewood Cliffs (N. J.): Prentice-Hall

Cummings, A. 1992: University Libraries and Scholary Communication: A Study Prepared for the Andrew W. Mellon Foundation, Association of Research Libraries, Washington DC (elektronisch verfügbar via URL: 'gopher://arl.cni.org', dort im Menü: 'Scholary Communication')

Deutsch, Matthias, 1994: Unternehmenserfolg mit EDI; Strategie und Einführung des elektronmischen Datenaustausches, Wiesbaden: Vieweg

Grötschel, Martin, 1994: Distributed Electronic Information System for Mathematics (elektronisch verfügbar via URL: http://www.zib-berlin.de/SoftInf/NewPerspShort.html)

Habermas, Jürgen, 1969: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/ M.: Suhrkamp

Henke, Ruth, 1995: Geistesblitz im Cyber-Space. In: Bild der Wissenschaft, 1995/ 03, S. 81-84

Hochgerner, Josef, 1986: Arbeit und Technik: Einführung in die Techniksoziologie, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz: Kohlhammer

Jaeger, Kurt 1996: Anmerkungen zur zukünftigen Technik des Internet; in: Rost 1996.

Kiss, Gabor, 1990: Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie, 2. neubearb. Aufl., Stuttgart: Enke

Luhmann, Niklas, 1984: Soziale Systeme, Frankfurt/ Main: Suhrkamp

Luhmann, Niklas, 1990: Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, Frankfurt/ Main: Suhrkamp

Marx, Karl, 1867: Das Kapital - Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Frankf./ M. 1976: Verlag Marxistische Blätter

Morris, Mary E. S., 1996: HTML - WWW effektiv nutzen, 2. erw. Aufl., Hannover: Heise-Verlag

Malm, Peer S., 1994: The unofficial Yellow Pages of CSCW - Groupware, Prototypes und Projects - Classification of Cooperative systems from a Technological Perspective. Groupware in Local Goverment Administration. (Thesis for the degree of cand. scient in Informatics, in preparation) - University of Tromsö / (elektronisch verfügbar via URL: ftp//:gorgon.tft.tele.no/pub/groupware/cscw_yp.ps)

Rieger, Wolfgang, 1995: SGML für die Praxis, Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag

Römer, Martin/ Quendt, Bernd/ Stenz, Peter; 1996: Autopiloten fürs Netz, Intelligente Agenten - Rettung aus der Datenflut. In: ct 1996/ 03, S. 156-162

Rost, Martin/ Schack, Michael (Hrsg.), 1995: Der Internet-Praktiker - Referenz und Programme; Hannover: Verlag Heinz Heise

Rost, Martin (Hrsg.), 1996: Die Netzrevolution - Auf dem Weg in die Weltgesellschaft, Frankfurt/ M.: Eichborn-Verlag

Stichweh, Rudolf, 1994: Wissenschaft, Universität, Profession - Soziologische Analysen, Frankfurt/ M.: Suhrkamp

Tanenbaum, Andrew S., 1990: Computer Netzwerke: Wolfram's Fachverlag

Ullrich, O., 1977: Technik und Herrschaft. Vom Handwerk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion, 1. Aufl., 1979, Frankfurt/ M.: Suhrkamp

Vobruba, Georg, 1990: Strukturwandel der Sozialpolitik - Lohnarbeitszentrierte Sozialpolitik und soziale Grundsicherung, Frankfurt/ Main: Suhrkamp

Wiiers, L., 1994: A Vision of the Library of the Future; in: Geleijnse, H./ Grootaers, C. (eds.), 1994: Developing the Library of the Futur - The Tilburg Experience; Tilburg University Press, S. 1-9