Martin Rost
Publikationen


WWW-Adresse: http://www.maroki.de/pub/other/pf_tal.html
Peter Fuchs

Theorie als Lehrgedicht

(Vortrag in Weilburg bei der Konferenz "Theorie als kulturelles Ereignis")

Meine Damen und Herren,

der Titel, den ich mir für diesen Vortrag ausgesucht habe, er ist seltsam. Er ist vor allem dann kurios, wenn er auf die soziologische Systemtheorie bezogen wird. Ihr wird oft genug die Hesse-Metapher vom Glasperlenspiel entgegengehalten, womit denn wohl gemeint ist, daß Niklas Luhmann ein magister ludi, seine Schüler discipuli ludi seien, die das virtuose Spiel der Begriffe beherrschten, das Schiebe- und Regelwerk einer labyrinthischen Denkungsart, die - wie faszinierend auch immer - endlos weit von der Realität entfernt sei und vom gesunden Menschenverstand sowieso. Unter diesen Umständen ist es ziemlich leichtfertig, in diesen Nagel- und Qualbalken der Systemtheorie weitere Nägel einzuschlagen und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob große Theorie nicht eines Tages in ein Lehrgedicht umschlagen oder einmünden müsse, also zur Nichtwissenschaft, bestenfalls zur Philosophie mutieren könne oder vielleicht schon längst mutiert sei.

Ich hätte das auch nicht getan, würde es auch jetzt nicht tun, wenn ich nicht vor einigen Jahren auf den nächtlich dunklen Fluren der Universität Bielefeld gestanden und mit Niklas Luhmann diskutiert hätte. Plötzlich sagte er mit jenem listig-schelmischen Blick, über den er mitunter verfügt: "Eigentlich müßte die Theorie zum Lehrgedicht werden!"1 Nun war ich damals Student und noch nicht daran gewöhnt, daß jemand wie Luhmann eigentlich immer genau sagt, was er sagt. Ich nahm den Satz hin, ich fand ihn intuitiv überzeugend, aber ich machte mir weiter keine Gedanken. Ich nahm ihn als eine im gewissen Sinne provokative Ballung, die sich auf die Kombinationskraft der Theorie, auf ihre Kompositorik, auf den Zusammenklang ihrer Motive richtete, auf ihre Ästhetik, ihre Sinnlichkeit... Kurz, ich nahm den Satz als Metapher, also als etwas, das sich genau nicht übersetzen und kommentieren läßt.

Am Rande einer Tagung erzählte mir dann Herr Kray von der Idee zu dieser Konferenz, und weil er von Ästhetik und solchen Dingen sprach, fiel mir jener Satz wieder ein, und weil ich mittlerweile nicht mehr Student war und Luhmann sehr viel besser kennengelernt hatte, konnte ich nicht mehr einfach glauben, daß die Aussage Theorie als Lehrgedicht nur metaphorisch sei. Das war keine uneigentliche Rede, das konnte nur eigentlich gemeint sein, und die Frage, zu der mich dann das Gespräch mit Herrn Kray anregte, das war genau diejenige: Was konnte Luhmann damit gemeint haben? Das Motiv des Lehrgedichtes klingt schließlich großartig, kosmologisch, in einem gewissen Sinne abschließend, und diese Großartigkeit, dieser kosmologische Anspruch, dieses Von-den-Göttern-her-zu-den-Menschen-sprechen, das ist Luhmanns Sache nun wirklich nicht. Guter Geist sei trocken, pflegt er mitunter zu sagen, und ein Lehrgedicht, das kann nicht in diesem Sinne trocken sein.

Da ich Herrn Kray aber leichtsinnigerweise den Arbeitstitel "Theorie als Lehrgedicht" genannt hatte und er in ganz ungebührlicher Begeisterung zustimmte, daß dies ein guter, ein verheißungsvoller Titel sei, wurde ich unter sozialen Zugzwang gesetzt. Ich hatte ein Wort, mehr nicht, wenn es auch ein großes Wort war. Die Frage, die ein Systemtheoretiker sich unter diesen Voraussetzungen stellt, ist die nach den Unterscheidungen, die das Wort zum Begriff machen: Was unterscheidet das Wort und wovon unterscheidet sich diese Unterscheidung? Die Antwort ist zunächst, daß der Begriff in sich die Unterscheidung, in der er unterschieden wird, wiederholt. Das Lehrgedicht ist unterschieden vom Gedicht, es ist unterschieden von der Lehre, und der Begriff kombiniert das Unterschiedene. Das ist, wie man sagen könnte, eine Weder/Noch-Figur, die als Weder-plus-Noch formuliert wird: weder Lehre noch Gedicht, aber dennoch Lehre und Gedicht. Das erinnert an die paradoxen Figuren des Cusaners, das ist sein non-aliud, erinnert aber auch an Glanvilles "Dasselbe ist das Andere!"; das erinnert auch an die Differenz, aus der die Systemtheorie lebt, an die Unterscheidung von System und Umwelt, deren Einheit in ihr selbst (das System ist die Differenz) wiederholt wird, Ausgangspunkt jener minimalen Ontologie, die im autologischen Schluß zu dem Ergebnis kommt, daß derjenige, der System und Umwelt unterscheidet, selbst ein System ist. Das ist ja schließlich die zentrale Münchhausiade der Systemtheorie. Mit dieser Figur zieht sie sich aus dem Sumpf der Ontologie, sie sich selbst mit einer Ontologie des Minimums, eine Figur, die im übrigen stark verwandt ist mit der Hegelschen Idee des absoluten Unterschieds, einer Ununterschiedenheit, die sich in sich unterscheidet und damit eine Welt der dialektischen Vollzüge inszeniert..

Aber damit ist nicht viel mehr gesagt, als daß das Wort "Lehrgedicht" formtheoretisch fasziniert, daß Luhmann, als er es auf seine Theorie bezog, nicht einfach ein Larifari-Wort heranzog, sondern einen seltsam gebauten Begriff, der wohl nahe liegt am Spiel der Paradoxien und Zirkularitäten, an dieser Ökonomie der Umkehrungen und Wiedereintritte, an diesen Verschleifungen von Selbst- und Fremdreferenz, durch die die Theorie ihre inkongruenten Perspektiven gewinnt, ihr Überraschungspotential. So müßte man jedenfalls heute sprechen, wenn man mitsieht, daß die Lehre, das systematische Reden über die Welt, das aufklärerische Displacement, sich scharf getrennt hat vom Gedicht, in dem die Welt, das, was sich aufgeklärt über sie sagen läßt, verschwindet zugunsten einer extremen Selbstreferenz der Zeichen, zugunsten eines, wenn man so sagen darf, nur noch aus den Augenwinkeln informierenden Schweigens, an dem sich dann die Ungeheuerlichkeit endloser Kommentare und Kommentare kommentierender Kommentare entzündet.

Das lehrende Gedicht, die gedichtete Lehre, das ist heute ein Topos unter Verdacht. Und genau das führte ja in jene Verwunderung, daß jemand, der nicht leichtsinnig zu sprechen pflegt, Theorie unter diese Kategorie des Argwohns, wie spielerisch auch immer, einreiht. Schließlich kann man nicht erwarten, daß die Zusammenführung von Gedicht und Lehre unter Bedingungen einer polykontexturalen Gesellschaft eine Art Steinerschen Mehrwert der Primarität ergibt - die Lehre wird nicht geheiligt durch das Gedicht, das Gedicht nicht geheiligt durch die Lehre. Übrig bliebe nur, daß Luhmann mit diesem Wort vom Lehrgedicht auf den Umstand hinweist, daß die soziologische Systemtheorie hohe Anteile der Selbstreferenz, der Autologie, der freischwebenden Konstruktion beinhaltet und daß darin nicht ein Mehrwert der Primarität liegt, aber ein Mehrwert intellektuell goutierbarer Ästhetik. Die Theorie, würde das bedeuten, wäre attraktiv nicht nur auf Grund ihrer Leistungsfähigkeit, sondern auch auf Grund ihrer Schönheit oder gar auf Grund ihrer Erhabenheit. Das ist gewiß eine Beschreibung, die wir aus der Geschichte großer Theorien kennen, vor allem abgelebter Theorien: Schönheit, Eleganz, Einfachheit, Integrität, Erhabenheit. Mit solchen Bestimmungsstücken werden Gründe für Nichtvergessen sozial praktiziert. Aber andererseits: Wenn eine Theorie, die ja noch im Werden begriffen ist, in einem historischen Durchsetzungsprozeß erst überhaupt Gründe für Nichtvergessen schaffen muß, dann wäre der Hinweis auf Schönheit und ähnliche ästhetische Kategorien eine Art Suizid-Versuch.

Wenn es aber darum nicht geht, worum dann?

Blickt man zurück auf das, was Lehrgedicht genannt wurde, und konzentriert man sich dabei auf das, was uns als Origo, als Ursprung, als déhiscence dieser uns heute merkwürdig anmutenden Form überliefert ist, dann stößt man einerseits auf Hesiods "Werke und Tage", einen Text, der eher in die Gattung des Belehrend-Erbaulichen einzuordnen ist; dann aber sofort auf das nur fragmentarisch überlieferte Lehrgedicht des Parmenides, von dem gesagt wird, es stehe im Ausgang der abendländischen Philosophie, es sei die erste Philosophie des Seins und dann des Nichtseins, der Basistext einer über zwei Jahrtausende dauernden und nach wie vor anhaltenden Überlieferungs- und Diskussionsgeschichte. Parmenides, so spitzen manche es zu, hat jene Urverfehlung begangen, die heute unter dem Titel "Ontologie" diskutiert wird. Von ihm aus okkupiert die Unterscheidung von Sein und Nichts die Tradition, in der wir uns bewegen, gegen die wir anstrampeln, die wir aber auch feiern als das einmalige Abenteuer, in das sich das denkende Europa verwickelt hat.

Wenn das so ist, wird man erst einmal geneigt sein, das Luhmannsche Diktum "Theorie als Lehrgedicht" nicht auf Parmenides zu beziehen. Das Sein ist nicht seine Sache, wird man festhalten dürfen. Jenseits der Minimalontologie "Es gibt Systeme" ist diese Theorie radikal in der De-ontologisierung, spätestens seitdem sie den Beobachter und den Beobachter des Beobachters eingeführt hat und auch noch den Beobachter beobachtet, der mit der Unterscheidung von Sein und Nichts arbeitet. Und dann sieht sie, daß dabei 'Dinge' herauskommen, die auch anders beobachtet werden könnten, eine Sicht der Welt, in der die Beobachter parallelisierbar sind, ausrichtbar auf das Seiende, über das man im Irrtum befindlich sein kann, allerdings in einem prinzipiell aufklärbaren Irrtum. Die Folge dieser Beobachtung für Systemtheorie ist, daß die Theoretiker, durch die sie sich schreibt, eine starke Idiosynkrasie gegen Seinsannahmen entwickelt haben - man könnte sagen: habituell.

Dennoch, wenn Luhmann in jener Bielefelder Nacht vom "Lehrgedicht" sprach, dann kann er sich eigentlich nur auf Parmenides bezogen haben, auf diesen prominenten Text der Geistesgeschichte. Mag sein, daß von dort aus Assoziationen zum Parmenides des Plato, zur sokratischen Auseinandersetzung um das Lehrgedicht, vorliefen, aber die Quelle selbst, davon gehe ich versuchsweise aus, wird ihm vorgeschwebt sein. Er kann nicht nicht wissen, daß sie einem einfällt, wenn vom Lehrgedicht die Rede ist. Nun werde ich niemals wissen, mit welchen Phantasmen Luhmann intern umgeht, aber da nun einmal das Wort gefallen ist vom "Lehrgedicht" und da nun einmal das Lehrgedicht des Parmenides das Paradigma eines Lehrgedichtes liefert, habe ich mich entschlossen, ad fontes zu gehen und nachzuschauen, ob es Zusammenhangs- oder Spiegelungsverhältnisse zwischen Parmenides und der modernen soziologischen Systemtheorie gibt. Ad fontes - das ist angesichts einer nun nahezu 2500 Jahre währenden Überlieferungsgeschichte, angesichts akribisch philologischer Textarbeit auch noch in diesem Jahrhundert, angesichts all der wichtigen Philosophen, die sich auf Parmenides bezogen und ihre Einsichten in die Überlieferungsgeschichte einbauten, ein leichtsinniger Ausdruck. Ohne deren Rüstzeug, von dem mir nur die armselige Kenntnis des Altgriechischen zur Verfügung steht, ist es bodenlos frech, über Parmenides zu reden. Dennoch werde ich es tun. Und ich kann es tun, weil die Arbeit der Philosophe und Philologen erwartungsgemäß, wenn man an Gadamer denkt, kein gültiges Verstehen der Fragmente produziert hat. Das immense Maß an Wissen über diesen kurzen Text hat zugleich das Nichtwissen vermehrt. Das bietet die Chance, sehr viel zu vergessen, und ich nutze diese Chance. Es kommt ja nicht darauf an, eine Deutung des Parmenides zu geben, sondern nur darauf, einer Spur zu folgen, die ein Soziologe gelegt hat und der ein anderer Soziologe jetzt nachspürt.

Interessant ist, daß einer der Gründe für den Einmaligkeitsrang von Parmenides sich darin findet, daß er eine nicht-empirische Theorie mit Gewißheitsanspruch entwickelt. Nicht-empirisch, das bezieht sich zunächst darauf, daß in der Tradition des Anaximander die Gültigkeit von Aussagen über die Welt an Erfahrungstatsachen gemessen wurde. Gerade deshalb konnte es zu keinem absoluten Gültigkeitsanspruch dieser Aussagen kommen, da die Einheit des Verschiedenen nicht selbst empirisch darstellbar ist. Die Einheit des Verschiedenen (als Realität etwa) ist schließlich paradox. Darauf reagiert übrigens vor Parmenides Xenophanes mit einer Skepsis, die sehr modern anmutet. Will man dennoch die Einheit des Verschiedenen formulieren, und das tut offenbar Parmenides, ist man genötigt, eine Theorie zu bauen, die in ihren wesentlichen Hinsichten formal ist und ihre Bezwingungsgründe in der Konsistenz der Begriffe (also in ihren logischen Ableitungsverhältnissen) hat und nicht im Verweis auf die Tatsächlichkeiten dieser Welt. Eine nicht-empirische Theorie dieses Typs taugt dann auch nicht für Direkterklärungen der Welt.

Das können wir heute sehr schön sehen an der Theorie Sigmund Freuds, deren Zentralbegriff des Unbewußten sich per definitionem jeder Empirie entzieht, aber eben auch, das ist die erste These, an der soziologischen Systemtheorie. Denn weniger ist mehr deutlich als der Umstand, daß die zentralen Begriffe dieser Theorie sich keiner Empirie fügen, daß sie zwar Beobachtungen formieren, aber selbst nicht beobachtet werden können. Selbstverständlich ist so etwas wie Autopoiesis, und das sagt Luhmann selbst, ein Begriff, in den die Unbeobachtbarkeit eingebaut ist, oder ist Kommunikation nach geläufigen Verständnis dezidiert unbeobachtbar oder nur falsch beobachtbar, in der Weise einer méconaissance, einer Verkennung, weil psychische Operationen keinerlei Kontakt mit kommunikativen Operationen unterhalten. Es gibt dem Begriff der Beobachtung, aber zu ihm gehört, daß jede aktuelle Beobachtung sich nicht selbst beobachten kann (und das gilt für alle Beobachtungen) und daß jede Beobachtung, die das beobachtet, unter das Gesetz der différance fällt, also verschoben und nachträglich ist. Die Metapher vom blinden Fleck ist hier mittlerweise eine Katachrese. Und da ist dann der Begriff des Systems, also der Begriff einer Differenz, eines Schieds, einer Barre, die unüberschreitbare Grenzen markiert - für Fremdbeobachtung, aber auch, wie sich schnell zeigen ließe, für Eigenbeobachtung. Die Minimalontologie des Systems, von der ich oben sprach, wie ist sie denn anders gewonnen als aus einer selbstimplikativen Unterscheidung? Wer System und Umwelt unterscheidet, unterscheidet sich als System sofort mit. Und dies, ohne daß jemals jemand ein System gesehen hätte!

Wenn man mitsieht, wie oft beklagt wird (jedenfalls von Nichttheoretikern), daß diese Theorie nicht anwendbar sei, eben ein Glasperlenspiel, eine Art Belustigung müßiger Geister, dann entspricht das der wohl anerkannten Einschätzung, die man auch Parmenides zuteil werden läßt: Er habe eine nicht-empirische, also pragmatisch bedeutungslose Theorie angefertigt. Uns interessiert weniger, ob das zutrifft - schließlich entstand dabei eine Kosmogonie und eine Kosmologie und ein über Jahrtausende anschlußfähiger Text -, sondern vielmehr, daß Parmenides vielleicht der erste Theoretiker war, der eine Witterung für die formalen Gesichtspunkte einer Theorie hatte, für ihr Innenleben, für die Nichtbeliebigkeit von Konsistenzzwängen, die aus Unterscheidungen resultieren, die aufeinander bezogen werden. Er hatte Sinn für complicatio und explicatio in der Theorie, man könnte auch sagen: für das Arrangement von Unterscheidungen, das als Arrangement überzeugt und nicht als Repräsentation einer gleichsam ergreifbaren Welt. Ich würde hinzufügen, er war der erste Theoretiker, der Theorie selbst als sinnliche Qualität wahrnahm in einer spezifischen Form von aisthesis, ästhetisch also. Und dazu paßt, daß Luhmann einmal in einem anderen Gespräch erwähnte, daß er theoretische Texte, ja Texte überhaupt farbig strukturiert wahrnehme. Und für ihn wie für mich, das freilich dann in einem nicht mehr erwähnenswerten Maße, steht ein nicht nur obsessives, sondern ein erotisches Verhältnis zur Theorie nicht nur in einem vagen Hintergrund.

Die Witterung für die Innenseite der Theorie, und ich denke, die meisten haben nur Witterungen für die Außenseite, für die Fremdreferenz einer Theorie - diese Witterung für die Innenseite zeigt sich bei Parmenides in einer außerordentlich schwierigen und raffinierten Figur. Wenn die Theorie nicht-empirisch ist (metaphysisch wäre ein anderer Begriff dafür), dann liefert sie kein Bild der Welt, dann ist sie nicht evident im rethorischen Sinne dieses Wortes, sondern unanschaulich, mithin abstrakt. Gleichzeitig aber kann keine Theorie die empirische Welt ausschließen, jeder theoretische Solipsismus (so auch der radikale Konstruktivismus) landet bekanntlich im performativen Widerspruch. Die Frage ist dann, wie kann eine nicht-empirische Theorie über das reden, was sie einschließt und doch ausschließt? Oder anders: Was ordnet die Theorie, nur sich selbst oder auch die Beobachtung einer Welt, die in ihr empirisch nicht abgebildet werden kann? Oder beides zugleich?

Ich glaube, jeder, der die Diskussion um die soziologische Systemtheorie kennt, spürt, daß diese Fragen, so sehr sie aus dem Altertum kommen, alles andere als altertümlich sind. Und alles andere als altertümlich ist die Antwort des Parmenides: Sie ist eine Umkehrung der Theorie, die Konstruktion einer inversen Figur, die - modern ausgedrückt - besagt, daß die Bedingung der Möglichkeit der Wahrheit zugleich die Notwendigkeit der Unmöglichkeit von Wahrheit in der empirischen Welt ist. Oder knapper und klarer: Die Theorie ist gültig, wenn sie nachweist, daß die empirische Welt der Menschen auf einer fundamentalen Irrtumsnotwendigkeit aufbaut. Oder auch: Die Theorie ist in der Wahrheit zuhause, wenn die Menschen in der Unwahrheit leben. Die Wahrheit der Theorie (alétheia) ist an die Unwahrheit der menschlichen (sterblichen) Weltinterpretationen (dóxai) geknüpft. Alétheia und dóxai bilden ein Schema, dessen Seiten sich wechselseitig stützen. Da der Dichterphilosoph sterblich ist, haust er in der Falschheit, im Irrtum. Eben deshalb wird er im Proömium des Lehrgedichtes "auf den kundevollen Weg der Göttin gebracht". Interessant ist, am Rande bemerkt, daß dieses Bringen durch und durch weiblich ist: Híppoi taí me phérousin... Stuten tragen den wissenden Mann; Koûrai d' hodón hegemóneuon... Jungfrauen wiesen den Weg; die Heliaden beeeilen sich zum Geleit. Am Tor der Bahnen von Tag und Nacht wartet Diké, die unerbitterliche Göttin des Rechts, die erst überzeugt werden muß, das Tor zu öffnen, und dann erst kommt die Göttin, die die Wahrheit und die Unwahrheit kennt. Sie ist offenbar ein extern beobachtendes System, eine dea ex machina, die das Schema Wahrheit/Unwahrheit (alétheia/dóxai) beobachten kann.

An diesem Proömium des Lehrgedichtes ist mindestens zweierlei instruktiv. Einmal scheint sich die Wagenfahrt einzuordnen in mythisch-archaische Initiationserzählungen. Aber das unterscheidende Merkmal (eben das Besondere des Parmenides) besteht darin, daß die Fahrt (diese Erfahrung) nicht ein Schmuck- und Beiwerk ist, eine Art Allegorie, sondern notwendig. Der Dichterphilosoph kann nicht in der Welt der dóxai die Wahrheit sagen, denn er gehört ihr an, er ist selbst sterblich und irrend, wir erinnern uns: notwendig irrend, wenn die Theorie wahr ist. Er muß irgendwie einen Vorgang der Externalisierung seiner selbst bei gleichzeitigem Erhalt seines immanent sterblichen Status entwickeln. An diesem Paradox kommt es zur Morphogenese der Fahrt zur Göttin. Es bleibt in der Logik der Theorie kaum eine andere Wahl. Dann aber (und auch daran zeigt sich mir der Rang an Theoriesensibilität des Parmenides) muß er eine Beobachterin einführen, jene Göttin, die das Schema alétheia/dóxai beobachtet - von außen, sonst sähe sie das Schema nicht, und von außen, das heißt, von einem Ort her, der sich vom Schema selbst unterscheidet. Die Göttin wohnt nicht im markierten Raum, im marked space der Unterscheidung. Sie ist weder Wahrheit noch Täuschung, womit wir denn Heideggers Annahme erledigen, sie selbst sei Alétheia, die Göttin der Wahrheit. Und sie ist auch nicht, wie andere sagen, Dike, die Göttin des Rechts, denn die verhält sich, wie wir heute sagen würden, orthogonal zur Sphäre der Wahrheit. Sie hat gar nichts mit ihr zu tun. Die Göttin, die das Schema beobachtet, wir lassen sie jedenfalls namenlos und würden allenfalls spekulieren, daß sie heute Frau Spencer-Brown heissen könnte. Jedenfalls lassen sich ihre Anweisungen an Parmenides lesen als: "Draw a distinction!" und: "Ich lehre dich die Unterscheidung!"

Die Paradoxie, daß sie die Wahrheit und die Täuschung beobachtet von einer Stelle aus, die nicht die Wahrheit und nicht die Täuschung ist, erzwingt den Vermittler, der in der Täuschung beheimatet ist, aber durch die Fahrt zu einer Göttin hingerissen wird, die ihm das Schema (und nicht die Wahrheit) offenbart. Die hier wichtigste Textstelle ist, was ihre Übersetzung anbetrifft, aber auch die griechische Schreibung bestimmter Wörter hoch umstritten: "all' émpes kaí taûta mathéseai, hos tá dokoûnta chrên dokímos eînai diá pantòs pánta perônta." "Dennoch wirst du in Bezug auf diese Meinungen (der unverläßlichen Meinungen der Menschen) verstehen lernen, daß das Gemeinte gültig ist, insofern es allgemein ist." Die Unwahrheit ist also auch wahr, die eine Seite des Schemas okkupiert die andere, alétheia ist ohne dóxai nicht zu haben. Und das ist erneut die Figur einer sich selbst bestätigenden Theorie.

Wir sehen auch, daß Parmenides ein Denker der Binarität ist, der die Paradoxie des ausgeschlossenen Dritten und die der Einheit des Binären ins Narrative auflöst, in Gestalten. Und auch darin ist er, wie ich gegen Ende des Vortrages noch eben skizzieren werde, unglaublich modern. Aber zuerst sollte die Frage beantwortet werden, was diese Konstruktion einer nicht-empirischen Theorie, die ihre Gültigkeit aus ihrer Inversion in die dóxai der Sterblichen bezieht, mit der soziologischen Systemtheorie gemein hat. Oder anders gefragt: Welche theoretische Figur (und wirklich im Sinne der Beobachtung der Innenseite der Theorie) hat Ähnlichkeit mit einer der zentralen Figuren der Systemtheorie?

Es ist genau die Figur einer systematischen Täuschung des Gegenbestandsbereiches über sich selbst mit dem Gegenbild einer formal konsistenten, nicht-empirischen Theorie, die die Täuschung als notwendig beschreibt und sich selbst damit als nicht-täuschend. Die Menschen sehen Menschen, sehen sich handeln und reden, glauben zu kommunizieren, glauben Bestandteile des Sozialen zu sein, und sie sind und tun nichts von alledem, sagt die Theorie. Das Wirklichkeitserleben der Menschen ist schlichtweg falsch. Etwas anderes geschieht, aber dieses Andere, das sehen nicht die Menschen, das sieht nur die Theorie, aber sie sieht es nicht im Sinne von Wahrnehmung, die sich auf Tatsachen bezieht, sondern als Produktion eines Beobachtungssyndroms, das intern konsistent ist und genau daraus seine Plausibilität gewinnt. Und keine Theorie, auch nicht diese, pumpt sozusagen richtiges Erleben in die falsch erlebenden Systeme, die ja richtig erleben, was sie erleben, oder genau das erleben, was sie erleben, und nicht irgendetwas anderes. Das kann die Theorie heute noch mitformulieren, wie wir wissen, weil ihr Begriffe wie Autologie, Selbstreferenz etc. zur Verfügung stehen.

Aber dennoch kommt es mir nicht wie ein Zufall vor, daß Luhmanns Theorie, wenn er sie schreibt, einen so stark narrativen Duktus hat, einen erzählenden Grundton, eine Neigung zur Entfaltung der Paradoxie in, sagen wir, historischen Gestalten, zur Erzählung semantischer Prozesse - ganz gegen die Rede vom Ende der großen Erzählung. Das sage ich jetzt natürlich ungeschützt dahin, aber wenn es denn so sein sollte, dann wäre dies die moderne Form der Parmenidischen Fahrt - nur daß keine Göttin auftaucht. Immerhin finden sich auch die Metaphern der Fahrt, ins Moderne gewendet, bei Luhmann: Jener berühmte Flug über den Wolken... ist ein bezeichnendes Beispiel.

Im übrigen findet sich die parmenidische Konstruktion gespiegelt in dem Umstand, daß die Systemtheorie ebenfalls die Wahrheit beobachtet - als Schema, als wahr/unwahr, als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, und eben deshalb nicht sagt, sie selbst sei wahr, sie selbst sei in der Wahrheit, sondern nur: daß sie sich austesten lasse an der Anschlußfähigkeit ihrer Operationen, also an Fruchtbarkeit, an der Wirkung ihrer Perspektiven. Dabei baut sie sich selbst ein in das, was sie beobachtet, in die Unterscheidung von wahr und unwahr, insoweit sie sich als Moment der Wissenschaft auffaßt. Die Theorie, die diese seltsame Lage konstruiert, konstruiert sich als weder drinnen noch draußen - als Wedernoch, und wir hatten vorhin schon zur Kenntnis genommen, daß der Titel "Lehrgedicht" eine solche WederNoch-Figur darstellt. Die Theorie schwebt eigentümlich innerhalb und außerhalb des Schemas wahr/unwahr, so wie die Theorie des Parmenides eigentümlich schwebt in und außerhalb der Unterscheidung von alétheia und dóxai. Vielleicht darf man sagen, sie ist in dieser Schwebung: Dichtung und gedichtet.

Was aber ist die zentrale Lehre der gedichteten (und dichtenden) Göttin? Was ist die Wahrheit, die im Schema alétheia/dóxai mitgeteilt wird?

Ein weiteres, ein streng binäres und sehr komplexes Schema. Es unterscheidet zwischen einem absoluten Einschluß und einem absoluten Ausschluß. Der Einschluß legt fest, "daß es (das Seiende) ist und daß nicht ist, daß es (das Seiende) nicht ist". Und mit diesem Totaleinschluß (der so tautologisch ist wie Wittgensteins These, die Welt sei alles, was der Fall ist) wird zugleich ausgeschlossen, daß das Nicht-ist ein Pfad der Erkenntnis und der Erfahrung sein könnte. Der Weg ist nicht begehbar. Erkannt werden kann nur, was ist, und nicht, was nicht ist. Wer sich auf die Seite des Nicht-ist schlägt, ist auf dem Unweg. Nur die andere Seite der Unterscheidung ist methódos, ist Wahrheitsweg. Es geht also nicht einfach nur um den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, um das tertium-non-datur, wie man verschiedentlich angenommen hat, sondern um ein secundum-non-datur: Es ist, und es ist nicht, daß es nicht ist.2 Und wiederum ist die Unterscheidung selbstimplikativ. Sie schließt in sich selbst aus, daß sie nicht ist. Indem sie unterscheidet, unterscheidet sie sich als seiend (weil erkennend) gleich mit. Die Ontologie des Parmenides startet minimalistisch. Ich erinnere erneut daran, daß eben dies die Figur der Minimalontologie der soziologischen Systemtheorie darstellt - Es beobachtet, es ist! Und dann formuliert die Göttin eine zweite, sehr seltsame Wahrheit: "daß es nicht ist und daß es sich gehört, daß es nicht ist." (he d'ós oúk éstin te kaí hos chreón esti mè eínai). Das Problem ist das Wort "chreón". Es wird sehr unterschiedlich übersetzt, etwa als "nötig-sein", "notwendig-sein", als modale Kategorie dessen, was sich nicht anders verhalten kann im Sinne der aristotelischen Modallogik, oder eben auch als: "Es gehört sich nicht!" Mag die Übersetzung von chreón als nötig, notwendig richtig sein, einiges spricht ja dafür, so gefällt mir dennoch die andere besser, die vom sich-gehören spricht: Es ziemt sich, daß das Nichtseiende nicht ist. Mir gefällt das besser, weil die zweite Wahrheit am Scheideweg, den die Göttin entwirft, eine Präferenz markiert: als ein Sollen, als eine sittliche Gebotenheit, der dann, wie wir wissen, das denkende Abendland nicht folgte. Es ließ sich durch den Unweg faszinieren, durch das Nichts, durch das Verbot, die zweite Seite des Schemas ernst zu nehmen. Es gefiel sich im 'Abgründeln', nicht darin, die Weisung der Göttin zu befolgen: Draw this distinction! Aber markiere nur die eine Seite der Unterscheidung.

Schaut man auf die soziologische Systemtheorie, dann ist diese Figur die Bezeichnung des Systems, also der Differenz. Das Nichtsystem wird immer als Umwelt mitbezeichnet, das System ist die Differenz, aber es ist die Differenz, es steht immer auf seiner eigenen Seite. Und es gehört sich, daß es nicht auf seiner Nicht-seite steht in der Unterscheidung, die das System erzeugt. Das System ist in einem genauen Sinne auto-poietisch. Und wenn Sie mir, einem Systemtheoretiker gestatten, dies zu beobachten, dann ließe sich vielleicht sagen: Es ist auto-poetisch. Von woher ich das dann sagen kann, bleibt rätselhaft. Ich verweise auf Parmenides und seine unbekannte Göttin. Sie gibt eine formale Theorie, die in die Unterscheidung von alétheia und dóxai führt. Die Notwendigkeit der doxai begründet die Richtigkeit der formalen Theorie. Die Theorie wird, nachdem sie lange schon gestartet ist, auf ihre eigenen Anfang stoßen und ihn mit einer Kosmologie auffüllen. Wir haben schon gesagt, daß jene unbekannte Göttin den Namen Frau Spencer-Brown zu Recht tragen würde - heute in den so göttinnenlosen Zeiten.

Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob diese Skizze, mit der ich Sie gequält habe, am Ende gezeigt hat, daß Luhmann wußte, was er sagte, als er von "Theorie als Lehrgedicht" sprach. Ich werde mich hüten, ihn zu fragen. Er könnte beteuern, daß all dies nicht so ist, und ich möchte keine Zweifel an seiner Aufrichtigkeit wecken. Außerdem sind die Spiegelungsverhältnisse zwischen jenem Dichterphilosophen und diesem Soziologen so hübsch, daß ich sie mir ungern zerschmettern lasse. Bei beiden finde ich einen Tanz von Kraft um die Mitte kleiner, aber mächtiger Unterscheidungen, einen Tanz habe ich gesagt, und dabei möchte ich es bewenden lassen. Wenn Ihnen Nietzsche dabei einfällt oder einige der Lehrgedichte des Zenbuddhismus, soll es mir recht sein. Immerhin: Was, wenn nicht ein Tanz, ist ein kulturelles Ereignis?

Ich danke Ihnen.

1 Ich weiß nicht, ob er an anderer Stelle sich schriftlich dazu geäußert hat. Aber das nachzuprüfen, war mir nicht so wichtig.

2 Jeder Insider der Theorie weiß, daß dies genau die Eigenschaft von Operationen ist: secundum non datur.